Elon Musk : Er entscheidet (2024)

"Vox Populi, Vox Dei", twitterte Elon Musk auf Latein und ließ den Twitter-Account von Ex-US-Präsident Donald Trump wieder aktivieren. Die angebliche Stimme des Volkes, die Musk zur göttlichen erhob: Der Milliardär hatte per Twitter-Umfrage abstimmen lassen, ob Trump auf die Plattform zurückkehren dürfen solle. Ergebnis: 15 Millionen Stimmen abgegeben, knapp 52 Prozent dafür.

Würde es in diesem Gesamtgefüge rund um die Plattform Twitter noch um den Austausch von Argumenten gehen, wäre dies die Stelle, um darauf hinzuweisen, wie absurd diese Begründung gerade dann klingt, wenn Elon Musk sie äußert. Gerade er war es, der monatelang betonte, wie viele Bot- und Fake-Accounts es auf Twitter gebe. Das sahen damals viele Beobachter als etwas ungelenken Versuch, sich aus seiner 44-Milliarden-Kauf-Offerte von Twitter wieder rauszuwieseln oder zumindest den Preis zu drücken. Nur: Gerade wenn der Milliardär Musk sich im Sommer sorgte, wie viele unauthentische Accounts bei Twitter so herumflottieren, ist es einigermaßen absurd, jetzt eine öffentliche Umfrage als Grundlage für eine so weitreichende Entscheidung wie die Freischaltung von Trumps Twitter-Account heranzuziehen. Denn auf Twitter ist es für kleine engagierte Gruppen möglich, Features wie Polls zu beeinflussen – etwa indem man viele Accounts erstellt, wie zum Beispiel Alex Stamos, Direktor des Stanford Internet Observatory und ehemaliger Sicherheitschef bei Facebook, der New York Times sagte. Auch die österreichische Autorin und Desinformationsexpertin Ingrid Brodnig wies auf potenzielle Verzerrungen derartiger Abstimmungen hin: Solche Onlinevotings als Stimme des Volkes zu bezeichnen, nannte sie "grob falsch".

Auch Musk selbst hatte schon einmal Zweifel an der Belastbarkeit von Twitter-Abstimmungen aufgeworfen. Als er Anfang Oktober seine Idee für ein ukrainisch-russisches "Friedensabkommen" bei Twitter zur Abstimmung stellte – ein Vorschlag, der der russischen Seite stark zuneigte und für den sich in dem Votum keine Mehrheit fand –, schrieb Musk: Die Bot-Attacken auf diese Umfrage seien stark. Auch wenn diese Fälle sehr unterschiedlich sind: Die Idee, dass Twitter-Abstimmungen nicht das verlässlichste Abbild einer öffentlichen Meinung sind, scheint also auch dem neuen Twitter-Chef bereits gekommen zu sein.

Entscheidung getroffen ohne Gremium

Das Problem ist, dass es nicht darum geht, ob Musk schlüssig argumentiert. Man wird nicht klären können, ob er überhaupt selbst glaubt, dass seine Twitter-Umfrage eine legitime Grundlage für die Entscheidung über Trumps Account darstellt.

Vielmehr dokumentiert Musk das, was sein Schlingerkurs der vergangenen Wochen immer deutlicher zeigt: Was er selbst noch vor Wochen oder Monaten gesagt hat, wie er argumentiert hat, belastet den Milliardär Musk in seinen Entscheidungen im Zweifelsfall wenig.

So hatte er am Tag, nachdem er Twitter übernommen hatte, angekündigt, gesperrte Accounts nicht wieder freizuschalten, bis das Unternehmen einen Rat für die Content-Moderation mit "sehr diversen Perspektiven" eingerichtet habe. Diesen Rat allerdings scheint es bei Twitter bis heute nicht zu geben – öffentliche Äußerungen von Musk dazu fehlen. Stattdessen hat die Plattform nach massiven Kündigungen ein ausgedünntes Moderationsteam, der Chef für die Abteilung Trust and Safety hat gekündigt, diverse andere Abteilungen, deren Arbeit eng mit der Moderation verknüpft ist, wurden ganz dichtgemacht.

Und doch ist nun Trumps Account wieder da. Eine Twitter-Abstimmung mag hier garnieren, kann aber nicht verschleiern, dass jetzt offenbar nur einer die Entscheidungen trifft: Musk selbst.

Der ehemalige Chef der Abteilung Trust and Safety, Yoel Roth, schrieb am Freitag in der New York Times noch vor der Entscheidung über Trumps Account, Musk sorge durch seine impulsiven Änderungen, durch seine tweetlangen Äußerungen zu Twitter-Regeln für einen Mangel an Legitimität. Roth fügte hinzu, Musk habe deutlich gemacht, "dass er am Ende des Tages das Sagen haben wird" – und begründet damit seinen eigenen Rückzug aus dem Unternehmen: "Ein Twitter, dessen Richtlinien per Erlass festgelegt werden, hat wenig Bedarf an einer Vertrauens- und Sicherheitsfunktion, die sich der prinzipiellen Entwicklung des Unternehmens widmet."

Wie reagiert Trump?

Unklar ist zum jetzigen Zeitpunkt, wie Donald Trump auf die Entscheidung reagieren wird, welche Rolle Twitter künftig für seine Kommunikation spielen wird.

Trumps Twitter-Account war am 8. Januar 2021 wegen der "Gefahr einer weiteren Anstachelung von Gewalt" gesperrt worden. Hintergrund waren Tweets des ehemaligen Präsidenten zu Angriffen seiner Anhänger auf das Kapitol gewesen. Seine Tweets waren seitdem nicht mehr sichtbar. Trump äußerte sich nun auf der von ihm selbst mitgegründeten Plattform Truth Social.

Am Samstag hatte der ehemalige US-Präsident, der erneut für das Amt kandidieren möchte, gesagt, er sehe keinen Grund, zu Twitter zurückzukehren. Nur gilt eben auch für Trump: Wie nachhaltig und belastbar diese Aussagen sind, muss sich zeigen. Dass Trump Twitter als Megafon für Millionen potenzieller Zuhörerinnen und Zuhörer mittelfristig wird widerstehen können, klingt ein wenig unwahrscheinlich. Noch am Samstagnachmittag hatte er seine Follower auf Truth Social aufgefordert, sich an Musks Abstimmung über sein Twitter-Konto zu beteiligen – wenn auch verbunden mit einer Aussage, man werde "nirgendwo hingehen". Trumps Anhänger feierten jedenfalls Musks Entscheidung.

Die Aussicht auf einen wieder twitternden Trump alarmiert viele Desinformationsexperten: Würde Trump dort die gleichen Inhalte veröffentlichen, die er auf Truth Social geteilt hat, könnte er Twitter zu seiner "Brutstätte des Hasses, der Belästigung und der Aufwiegelung" machen, sagte Joan Donavan, Forschungsdirektorin am Shorenstein Center on Media, Politics and Public Policy in Harvard, der New York Times.

Es ist auch noch ein Unternehmen

Wie Elon Musk Twitter längerfristig mit seinen Free-Spech-Vorstellungen steuern wird, bleibt weiter kaum zu prognostizieren. Denn dahinter steht mehr als die Frage, was er unter Rede- und Meinungsfreiheit versteht. Twitters Einnahmen kommen zu einem Großteil aus Werbung. Schafft man ergo ein Umfeld, in dem Firmen keine Anzeigen mehr schalten möchten, trifft das die Plattform empfindlich.

Und Twitter steckt auch in anderen Abhängigkeiten – etwa von Apple oder Google. Kämen die irgendwann zu der Einschätzung, Twitters Apps, die über ihre Stores verbreitet werden, verstießen gegen ihre Guidelines, könnte auch hierüber Druck auf Twitter ausgeübt werden – im Extremfall vielleicht sogar irgendwann in Bezug darauf, ob Twitter in ihren Stores verfügbar ist. Auch wenn davor noch viele Zwischenschritte stünden, ein solches Szenario gerade nicht besonders wahrscheinlich ist: Das würde Twitter hart treffen.

Beides – sowohl die Werbekunden als auch die Rolle der App-Stores und ihrer Betreiber – wird Musk, bei allen Bekenntnissen für seine Version von Free Speech, im Hinterkopf haben müssen. Schon allein als Unternehmer, der gerade 44 Milliarden Dollar in die Twitter-Übernahme gesteckt hat.

Elon Musk : Er entscheidet (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Sen. Emmett Berge

Last Updated:

Views: 5923

Rating: 5 / 5 (60 voted)

Reviews: 91% of readers found this page helpful

Author information

Name: Sen. Emmett Berge

Birthday: 1993-06-17

Address: 787 Elvis Divide, Port Brice, OH 24507-6802

Phone: +9779049645255

Job: Senior Healthcare Specialist

Hobby: Cycling, Model building, Kitesurfing, Origami, Lapidary, Dance, Basketball

Introduction: My name is Sen. Emmett Berge, I am a funny, vast, charming, courageous, enthusiastic, jolly, famous person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.